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Autorenbildelianereichardt

Kazimierz Dabrowski - Sensitivität und Intensität (2)

Im ersten Artikel dieser kleinen Reihe über die Theorie von Kazimierz Dabrowski habe ich einen Überblick gegeben und einige spezifische Begriffe erläutert. Heute möchte ich die von Dabrowski heraus kristallisierten 5 Entwicklungsstufen genauer beleuchten.


Vielleicht muss der/die ein oder andere hier ein wenig umdenken. Die meisten Entwicklungstheorien, die wir kennen, werden über die Lebensspanne betrachtet. Dabei entwickeln sich Menschen mehr oder weniger kontinuierlich von der Geburt bis zum Tod.

Bei Dabrowski ist das anders: Seine Theorie beschreibt keinen kontinuierlichen Verlauf, sie ist nicht alters- oder stadienbasiert, sondern eine Theorie des persönlichen Wachstums. Es ist nämlich nicht so, dass wir alle als reflexionsunfähige Egozentriker beginnen und als Heilige enden. Wir finden Menschen in nahezu jedem Alter auf jeder Stufe.

Er postuliert, dass es von Geburt an festgelegt ist, welche Entwicklungsmöglichkeiten ein Mensch überhaupt hat, welche Stufe er überhaupt erreichen kann, nämlich durch den ersten Faktor der drei Entwicklungsfaktoren:


„Es ist die "konstitutionelle Begabung, die den Charakter und das Ausmaß des geistigen Wachstums bestimmt, das für ein bestimmtes Individuum möglich ist" (Dabrowski, 1972, S. 303, zitiert nach Mendaglio, 2008, übersetzt ER).

Diese Entwicklung des persönlichen Wachstums erfolgt auch nicht schrittweise klar getrennt von einem zum nächsten. Denken, Fühlen und Handeln auf den einzelnen Stufen sind sehr umfangreich, noch dazu bei jedem individuell unterschiedlich und tief im Leben verfestigt. Der eine Aspekt ist leichter zu verändern und geht mitunter recht schnell, andere sind nur sehr schwer veränderbar und brauchen manchmal sehr lange. Dem entsprechend gestaltet sich diese Entwicklung bei dem einen schwieriger, bei dem anderen leichter und geht bei dem einen schneller, bei dem anderen langsamer. Und so befinden sich Menschen oft auf unterschiedlichen Stufen gleichzeitig. Von der/den einen noch nicht ganz gelöst und die andere/n noch nicht vollständig erreicht. Und natürlich ist es auch völlig normal, zwischendurch immer mal wieder das „Ziel“ aus den Augen zu verlieren und diese Entwicklung unterbrochen wird, wenn z. B. praktische Fragen des Lebens akut vorrangig sind.


Nach Dabrowski kann also die höchsten Stufen nur jemand erreichen, der das angeborene Potenzial dazu hat, aber es ist bei weitem nicht so, dass jeder mit diesem Potenzial sie auch erreicht. Auch hier gibt es Unterschiede und die sind von vielen Faktoren abhängig (u. a. natürlich auch von der Ausprägung des angeborenen Potenzials). Das Leben ist komplex. Und Dabrowskis Theorie trägt dieser Komplexität Rechnung.


Zu Anfang sind sicher ein paar Erklärungen der von Dabrowski formulierten Begriffe ganz hilfreich:


Negative Anpassung – Anpassung an das „was ist“ „Negativ“ bezieht sich in diesem Fall auf das Fehlen von Entwicklungspotenzial. Menschen bewegen sich auf ihrer Entwicklungsstufe unauffällig, sind konform, zeigen eine mangelnde Reflexionsfähigkeit und üben kaum Kritik an der Realität. Sie können diese Stufe nicht verlassen, eben weil das Potenzial dazu fehlt.


Negative Fehlanpassung Diese Menschen sind innerhalb ihrer Entwicklungsstufe auffällig. Sie sind nonkonform, rücksichtslos und verfolgen ihre Ziele auf der Basis ihrer Egozentrik. Auch hier fehlt das Potenzial für eine Weiterentwicklung.

Negative Anpassung und negative Fehlanpassung finden sich auf den ersten beiden Entwicklungsstufen


Positive Fehlanpassung Diese Menschen stellen den Status Quo infrage. Sie sind unzufrieden mit dem „was ist“ (Ungerechtigkeit, Lügen, mangelnde Authentizität – im Kleinen wie im Großen) und suchen Wege hin zum „was sein sollte“. Im Verlauf kann dieses „was sein sollte“ auch immer mehr gelebt werden.

Die positive Fehlanpassung findet sich auf Stufe drei und vier. Manche zeigen bereits auf der zweiten Stufe Anzeichen davon.


Positive Anpassung Der Mensch hat sein Persönlichkeitsideal erreicht und lebt „was sein sollte“. Dies findet sich auf der fünften Stufe.


Stufe 1: Primäre Integration


Diese Stufe beschreibt Menschen, die von dem ersten der drei Faktoren (genetische Ausstattung) geleitet sind. Hier geht es um die Befriedigung von Bedürfnissen des Augenblicks. Weitsicht, Umsicht oder gar Wertschätzung sind arg begrenzt, weil die Perspektive fehlt. Menschen auf dieser Entwicklungsebene sind nicht in der Lage, etwas „von außen“ zu betrachten, sie richten ihre Ziele an materiellem Erfolg und/oder Macht über andere aus. Der Wert von Menschen wird an Geld, Status, Errungenschaften oder Macht gemessen. Allerdings ist diese Entwicklungsebene auch von einem Leben in Angst gekennzeichnet. Angst, die Errungenschaften und verlieren und damit wertlos zu sein. Das kann auch die Beziehung zu anderen Menschen mit einbeziehen. Beziehungen gestalten sich hier eher exzessiv, als von Achtung, Wertschätzung und „Sein-lassen“ geprägt. Auch der Verlust eines Partners ist hier demzufolge ein Verlust einer Errungenschaft und keinesfalls emotional auf diesen Menschen bezogen.

Es existieren wenig bis keine Konflikte, aber dennoch können schwer wiegende Verluste eine Krise und damit Desintegration auf einer Ebene auslösen. „Auf einer Ebene“ heißt, dass Krisen eben nur auf dieser einen Ebene gelöst werden, z. B. durch einen Umzug oder einen Arbeitsplatz- oder Partnerwechsel (à la „Beim nächsten Mann wird alles anders“). Oder man sitzt sie einfach aus. Am Ende kehrt man zum vorherigen Lebensstil zurück. Es erfolgt kein persönliches Wachstum.

Mendaglio (2008) nennt hier zwei Untergruppen: Zum einen gibt es einige, die sozial gut integriert sind. Sie empfinden manchmal einen kleinen inneren Konflikt, der sich aber auf „eine Frustration der Triebe oder Bedürfnisse oder einen Mangel an sozialer Zustimmung“ konzentriert. Diese Menschen können materiell sehr erfolgreich sein. Hier besteht eine negative Anpassung. Zum anderen sind hier auch Psychopathen einzuordnen. Sie sind soziopathisch und nutzen andere Menschen zum Zweck ihrer eigenen Bedürfnisbefriedigung aus. In diese Untergruppe gehören auch kriminelle Aktivitäten. Beides fällt in den Bereich der negativen Fehlanpassung.

Aber auch kleine Kinder kann man hier einordnen. Für sie ist Egozentrik eine ganze Weile lang überlebenswichtig!

Einzelne Aspekte dieser Stufe sind bei jedem Menschen in unterschiedlicher Ausprägung vorhanden. Weil aber auf dieser Stufe keine Entwicklung stattfindet, gehört sie eigentlich gar nicht zu Dabrowskis Wachstumstheorie, sondern ist nur eine Art Bestandsaufnahme. Eine Beschreibung eines statischen Zustands (Kinder sind hier natürlich ausgenommen!).


Dabrowski selbst sah diese Stufe im Widerspruch zu psychischer Gesundheit. Er sagte:


„Der Zustand der primären Integration widerspricht der psychischen Gesundheit. Ein relativ hoher Grad an primärer Integration ist bei der durchschnittlichen Person vorhanden; Ein sehr hoher Grad an primärer Integration ist beim Psychopathen vorhanden. Je zusammenhängender die Struktur der primären Integration ist, desto geringer ist die Entwicklungsmöglichkeit; Je stärker das automatische Funktionieren, die Stereotypie und die gewohnheitsmäßige Aktivität sind, desto geringer ist die psychische Gesundheit.“ (Dabrowski, 1964a, S. 121, nach Mendaglio, 2008, übersetzt: ER)


Stufe 2: Desintegration auf einer Ebene


Hier herrscht der zweite Faktor vor (soziales Umfeld). Das ganze Leben ist auf Anpassung an das soziale Umfeld ausgerichtet. Es handelt sich hier um Personen, die leicht von sozialen Gruppen und dem Mainstream beeinflussbar sind. Im Alltag unterwerfen diese Menschen sich unter Macht-, Führungs- oder Autoritätspersonen. Ob das ein Guru, ein Staatspräsident oder die strenge Auslegung einer Schrift ihrer jeweiligen Religion ist, oder auch die Eltern, denen man sich im Erwachsenenalter noch unterwirft (negative Anpassung). Hierzu gehört auch alles, was zu einer „Religion“ erkoren und dem alles andere untergeordnet wird, wie z. B. esoterische Konzepte, bestimmte Entspannungsmethoden, alternative Ernährungsweisen, bestimmte Behandlungsmethoden, etc. (bitte nicht verwechseln mit der Erkenntnis, dass bestimmte Dinge einem grundsätzlich, punktuell, situationsbedingt oder phasenweise gut tun!).

Antworten werden im Außen gesucht, nicht in sich selbst. Ihr Selbstbewusstsein leitet sich aus der Rolle ab, die andere für sie definiert haben. Deshalb ist es äußerst wichtig für sie, was andere von ihnen denken. Sie suchen ständig die Zustimmung anderer für ihre Gefühle, ihr Selbstverständnis schwankt zwischen Ich-Bezogenheit und der Sorge, was andere von ihnen halten könnten. Unschöne Gefühle werden meist durch Schuldzuweisungen aufgelöst: „Das war nicht meine Idee“; „Hans hat mich angestiftet, ich konnte nicht anders“; oder „mich muss der Teufel geritten haben“.

Sicher gibt es hier auch oft intensive Emotionen wie Angst und Zweifel an sich selbst, aber das bleibt auf diese Stufe begrenzt, es sind „horizontale Konflikte“. Deshalb führen sie meistens zum Verzicht auf Autonomie zugunsten des Komforts und der Akzeptanz, die durch Befolgung von Regeln anderer in Aussicht gestellt werden, „the same procedure as every year“. Nach einer Phase, die von einer mehr oder weniger inneren Unruhe geprägt war, kehrt man wieder in sein gewohntes Leben zurück.


Negative Fehlanpassung äußert sich hier häufig im Konsum von Alkohol und sonstigen Drogen, im Extremfall gar durch Suizid. Auch Psychosen können hier entstehen. Diese Menschen sind nicht in der Lage, mit ihren negativen Emotionen umzugehen.


Das soziale Umfeld ist ein wichtiger und sehr sensibler Faktor in Dabrowskis Theorie: Bei einem geringen Entwicklungspotenzial hat es einen wesentlichen Einfluss darauf, ob der Mensch sich integriert oder es möglicherweise zu einer negativen Fehlanpassung (z. B. Kriminalität) kommt. Zu einem persönlichen Wachstum in Dabrowskis Sinn wird es aber nicht kommen, egal, wie förderlich das Umfeld ist.


Bei einem hohen Entwicklungspotenzial sei es von geringerer Bedeutung, ob das Umfeld positiv oder negativ ist. Diese Personen seien von Natur aus „belastbar und weitgehend undurchlässig für ihr soziales Umfeld“ (Mendaglio, 2008). Sicher werden einige Leser jetzt protestieren und das aus gutem Grund. Aber Vorsicht: Dabrowski hat nicht gesagt, dass das Umfeld vernachlässigbar sei oder Menschen mit hohem Entwicklungspotenzial ein positives Umfeld nicht bräuchten!

Ich denke, dass er mit dieser Aussage auf die Freiheitsliebe (Autonomiestreben), die Nonkonformität, den hohen Idealismus und andere „Unabhängigkeitsfaktoren“ hinweisen wollte, die sicher zu einer hohen Ausprägung des Dritten Faktors, der Selbstbestimmung beitragen, der ja der wesentliche Faktor für eine mehrstufige Entwicklung ist. Und der wird sich sehr wahrscheinlich auch mit einem weniger positiven oder gar negativen Umfeld irgendwann im Leben durchsetzen.


Wenn das Entwicklungspotenzial besonders hoch ist, kann diese Stufe den Übergang zur mehrstufigen Desintegration darstellen. Desintegration wird immer durch den Beginn von Konflikten ausgelöst. Das kann, wie es auch oft bei der zweiten Stufe erwähnt wird, die Pubertät oder die Menopause sein. Wobei ich hier die Auswirkungen auf hormonelle Schwankungen und Ungleichgewichte zurückführen würde, also auf physiologische Ursachen, die mit dem gegebenen Entwicklungspotenzial grundsätzlich nichts zu tun haben und deshalb als Hinweis auf ein hohes Potenzial, das durchaus auch in dieser Stufe vorhanden sein kann, nicht unbedingt tauglich sind. Bei den meisten Menschen auf dieser Stufe führen sie nicht zu einer Weiterentwicklung, bei einigen schon. Desintegration durch andere Krisen wie zum Beispiel massive Schulprobleme (in oder nach der Pubertät), Verlust des Arbeitsplatzes, der Verlust eines geliebten Menschen (manchmal auch eines geliebten Tieres), ob durch Tod oder Trennung oder auch Schwangerschaft/Geburt ist meiner Auffassung nach der Indikator für einen Hinweis für ein hohes Entwicklungspotenzial.

Diese Menschen stellen fest, dass sie mit den durch ihre Sozialisation erlernten Strategien ihre derzeitige Krise nicht lösen können. So hinterfragen sie die erlernten Normen und Werte (Überzeugungen, Einstellungen und Emotionen) und lehnen sie, inclusive ihres Glaubens an Autoritäten, letztendlich ab, weil sie nicht hilfreich erscheinen. Dies ist der Übergang zur dritten Entwicklungsstufe.

Anmerkung: Zu Dabrowskis Zeiten hatte es keine negativen Gefühle durch Schwangerschaft/Geburt zu geben und eine Frau oder gar ein Mann hätten nie gewagt, auch nur anzudeuten, dass ihnen der Umgang mit dieser Lebensumstellung schwer fällt. Selbst heute ist es für viele Frauen schwer bis unmöglich, mit irgendwem darüber zu sprechen, dass dieses doch so freudige Ereignis sie in eine Lebenskrise geführt hat. Sie verurteilen sich oft selbst für ihre diesbezüglichen Gedanken und versuchen, sie sich zu verbieten, mit aller Macht los zu werden, zumindest aber vor anderen strikt zu verbergen. Es ist immer noch „politisch nicht korrekt“. Dennoch kommt es gerade bei (hoch)begabten Frauen und auch bei Männern (Vätern) häufiger vor.


Stufe 3: Spontane Desintegration auf mehreren Ebenen


Für Dabrowski ist das persönliche Wachstum stark von Emotionen beeinflusst. Die emotionale Entwicklung, wie Dabrowski sie postuliert hat, beginnt wirklich ernsthaft erst hier auf der dritten Stufe.

Menschen, die die sozialen Normen von Stufe zwei in Frage gestellt und sich entschieden haben, sich diesen Normen nicht mehr unterzuordnen (das ist oft ein eher unbewusster oder halbbewusster Vorgang, der nicht vorhergesehen oder gar geplant werden kann, deshalb auch „spontane Desintegration“), achten nicht mehr so sehr auf das, was ist, sondern sie fragen sich, was sein könnte.


Sie beginnen, ihre eigenen Werte und Überzeugungen zu formen und für sich zu formulieren. Dieser Vorgang ist zu Anfang auch oft noch eher unbewusst und von einer Menge negativer Emotionen überschattet, die das psychische Gleichgewicht ganz schön ins Wanken bringen können. Es ist nicht immer ein rein innerlicher Prozess, er spiegelt sich auch im Außen wider:


Das soziale Umfeld wird als nicht mehr passend empfunden. Das kann zu Schuldgefühlen führen oder zu den Gedanken, man sei egoistisch, undankbar oder fühle sich als „etwas Besseres“. Wenn man schon erste Kontakte zu einer anderen Gruppe hat, die besser zu passen scheint, ist dies oft mit großen Selbstzweifeln und Minderwertigkeitsgefühlen verbunden: „Bin ich hier wirklich richtig?“; „Werden sie mich akzeptieren?“; „Möglicherweise irre ich mich, bilde mir das alles nur ein und bin einfach nur komisch?“ Auf der anderen Seite steht das deutliche Gefühl, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, allein das Selbstvertrauen fehlt noch. Das ist auch kein Wunder, denn sie haben bisher ja nicht gelernt, sich selbst, ihrer Intuition zu vertrauen.


Bestehen derartige Kontakte noch nicht, ist es oft ein Gefühl, als würde man den Boden unter den Füßen verlieren, weil eine immense Lücke entstehen würde, verließe man sein soziales Umfeld ohne einen „Ersatz“. Gefühle von Verlorenheit, Orientierungslosigkeit und grenzenloser Einsamkeit breiten sich aus. Das ist ein nur sehr schwer auszuhaltender Zustand.

Doch langsam, Schritt für Schritt, beginnen sie, sich ein von Dabrowski so genanntes „inneres psychisches Milieu“ zu schaffen und stärken damit das Bewusstsein für sich selbst.

Anmerkung: Für Dabrowski ist das innere physiologische Milieu gegeben, das innere psychische Milieu (Wertehierarchie) wird geschaffen.


Aus diesem Bewusstsein heraus wird ihnen die Diskrepanz zwischen Real (das, was ist) und Ideal (das, was sein sollte/könnte) immer deutlicher bewusst, wodurch jetzt ein sogenannter "vertikaler innerer Konflikt" entsteht, der aufgrund der Vielschichtigkeit unseres gesellschaftlichen Lebens sehr lange anhalten und sehr schwer sein kann, insbesondere dann, wenn einem nicht klar ist, dass man auf dem Weg der Persönlichkeitsentwicklung ist.


Durch diesen vertikalen Konflikt entsteht die mehrstufige (multilevel) Desintegration. Die Person strebt danach, das „was sein sollte/könnte“ in sich selbst zu realisieren und wendet sich immer mehr von dem ab, was ist. Die Erfahrungen, die sie auf diesem Weg zu einem „höheren/besseren Ich“ machen, sind oftmals beunruhigend, ja stark beängstigend und können Zustände von starker innerer Unruhe oder depressive Phasen auslösen. Und daran sind auch Reaktionen aus dem Umfeld auf die Veränderung in dieser Person nicht ganz unschuldig.

Leider werden die „Symptome“ dieser Entwicklungsstufe von den meisten Menschen, auch von Fachleuten wie Ärzten, Psychiatern, Psychologen, Lehrern, Erziehern, etc. negativ bewertet. Sie sehen darin Anzeichen und oft gar Manifestationen von psychischen Krankheiten und versuchen, sie „weg zu therapieren“ oder „weg zu erziehen“. Dem widerspricht Dabrowski ganz vehement und ich schließe mich dem nach jahrelanger Erfahrung mit Menschen auf dieser Stufe an.

An diesem Punkt ist eine fachkundige Begleitung zu empfehlen, die eine positive Desintegration erkennen kann und sich mit ihren Erscheinungsformen bestens auskennt.


Der Übergang von der zweiten zur dritten Stufe bzw. die dritte Stufe sind wohl die Entwicklungsphasen, in denen ich die meisten hochsensiblen/hochbegabten Erwachsenen treffe.


Einige sind schon länger auf der Suche nach dem Grund ihres Andersseins, andere haben erst vor kurzer Zeit „zufällig“ davon erfahren. Einige haben eine oder mehrere Psychotherapien hinter sich, fast alle waren in Bezug auf eine Erklärung für dieses Anderssein erfolglos.

Aber ich begegne auch Kindern/Jugendlichen, die sehr selbst- und gesellschaftskritisch sind. Natürlich sind sie emotional noch nicht so weit entwickelt, dass sie genauso wie ein Erwachsener die Dinge in Frage stellen, doch sind schon deutliche Anzeichen zu erkennen. Deshalb vermute ich, dass sie, wenn sie sich auf den Weg der Persönlichkeitsentwicklung begeben, bei der dritten Stufe beginnen, denn sie beschäftigen sich schon sehr früh mit dem, was sein sollte.

Hier passt dieser kleine Ausschnitt gut, der sich mit der Theorie der Moralentwicklung von Lawrence Kohlberg beschäftigt:


„Wie Menschen ihre Antworten begründen, sagt viel über ihr moralisches Denken aus. Kohlberg stellte fest, dass kleine Kinder auf einer ‚präkonventionellen‘ Ebene argumentieren: Sie sind egozentrisch, denken nicht in höheren abstrakten Begriffen und gehorchen nur, um Strafe zu vermeiden. Später argumentieren sie auf einer ‚konventionellen‘ Ebene: Sie rechtfertigen Handlungen auf der Basis dessen, was die Gemeinschaft für das Richtige hält. Einige wenige gelangen über diese konventionelle Stufe hinaus und argumentieren auf einer ‚postkonventionellen‘ Ebene, wo Antworten mit universellen ethischen Prinzipien, wie zum Beispiel mit dem menschlichen Leben als oberstem Wert, begründet werden. Wer diese Stufe erreicht, redet eher darüber, wie die Gesellschaft strukturiert sein sollte als darüber, wie sie strukturiert ist. Kinder mit überdurchschnittlich hohem IQ beurteilen Moralfragen auf einer höheren Stufe als Kinder mit normalem IQ. Weniger als 10 Prozent der durchschnittlichen Erwachsenen gelangen in ihren moralischen Wertungen je über die konventionelle Stufe hinaus. Man hat jedoch nachgewiesen, dass einige Grundschüler mit hohem IQ auf der postkonventionellen Ebene denken. Das moralische Denken dieser Kinder läuft also häufig auf einer Stufe ab, die nur wenige Erwachsene jemals erreichen.“ (Ellen Winner, Hochbegabt, 1998, S. 203)




Stufe 4: Organisierte Desintegration


Die dritte Stufe hat schon einiges geklärt und es zeichnet sich eine klare Richtung ab. Der sich entwickelnde Mensch hat sich ein psychisches inneres Milieu aufgebaut, das sich auch schon so gefestigt hat, dass es für ihn absolut verbindlich ist. Sein „das sollte sein“ ist für ihn schon weitgehend ist den IST-Zustand transformiert, er hat ein Gefühl „moralischer Gewissheit“ und lebt das jeden Tag.


Seine Beziehungen, sowohl zu sich selbst, als auch zu anderen Menschen sind von Verantwortung und Empathie getragen. Das ständige Hinterfragen und Erkennen, das ihn auf der dritten Stufe oft so durchgeschüttelt hat, geht mehr und mehr zurück und er denkt und handelt ganz bewusst immer mehr ziel- und werteorientiert und fühlt sich immer vollständiger.

Die vierte Stufe repräsentiert eine sehr hohe Entwicklungsebene, sie ist der Beginn der sekundären Integration. Hier ist der dritte Faktor ganz wesentlich. Er hilft, zu entscheiden, ob Dinge, die aus der Umwelt auf einen zukommen, für die eigene Entwicklung förderlich sind oder nicht. Wenn sie nicht wachstumsfördernd sind, werden sie ganz bewusst abgelehnt.


Die Person ist jetzt in der Lage, ihr eigener Lehrer und ihr eigener Psychotherapeut zu sein und kann ihre persönlichen Ideale immer besser verwirklichen. Bei Bedarf kann sie ich selbst verbessern und sich Anleiten, mit Stress und Belastungen umzugehen, ob sie aus ihrem Inneren oder aus dem Umfeld kommen.

Der Mensch akzeptiert sich selbst, so wie er ist, und ist weitestgehend frei von gesellschaftlichen Konventionen. Er hat sich von „niederen Aspekten“ seiner selbst distanziert, leidet nicht mehr darunter, dass er „unerwünschte“ Anteile in sich hat. Sein Mitgefühl dafür ist absolut dominant und er akzeptiert andere in demselben Maß. Jetzt kann er sich auf die „Probleme der Welt“, also solche außerhalb von sich selbst konzentrieren.


Hierzu gibt Piechowski ein Beispiel von Janice Witzel (1991):

„Sie fand Beispiele unter unverheirateten Frauen, die sich als begabt, glücklich, selbstverwirklichend und unsichtbar erwiesen. In ihrer Leistung waren sie hervorragend, oft trotz mangelnder Unterstützung oder Anerkennung in ihrem Umfeld, was ihre Leistung noch erstaunlicher machte. Sie verfügten über ein hohes Maß an Energie, strebten nach Autonomie und der Entwicklung ihrer eigenen Kräfte, reagierten auf die angebotenen Gelegenheiten und Hilfeleistungen, hatten ein hohes Selbstwertgefühl, lebten eine zutiefst befriedigende Lebensweise und konnten schwierige Erfahrungen loslassen, ohne sie abzuwerten. Durch vielfältige und weitreichende Freiwilligenarbeit waren sie zutiefst altruistisch engagiert. Und trotz solch hoher persönlicher Qualitäten blieben sie größtenteils unbemerkt.“ (Nach Piechowski, 2008, übersetzt ER)


Stufe 5: Sekundäre Integration


Das ist nach Dabrowski das höchste Niveau der Persönlichkeitsentwicklung. Hier wird die sekundäre Integration abgeschlossen: Der Mensch zeichnet sich aus durch Verantwortung für sich selbst (das eigene Handeln, Denken und Begehren) und für andere, Autonomie, absoluter Authentizität und die Erreichung seines Persönlichkeitsideals. Es gibt keine wesentlichen inneren Konflikte mehr, diese Menschen leben in Harmonie mit sich selbst und anderen und empfinden inneren Frieden.

Im Sinn von Dabrowski heißt ‚Verantwortung für sich und andere‘ auch, dass andere Menschen nicht als Objekt gesehen werden, sondern als Subjekte, die ihre eigene Erlebenswelt haben, die unbedingt respektiert wird. Man kann andere Menschen ohne Wenn und Aber SEIN lassen. Wenn sie sich aber weiter entwickeln wollen, steht der hoch entwickelte Mensch ihnen gern zur Seite.

‚Autonomie‘ kennzeichnet sich durch die bewusste und offene Distanzierung von „niederen“ Trieben und sozialen Konventionen, die positiven moralischen Werten widersprechen.

‚Authentizität‘ basiert auf Selbsterkenntnis und ist Ausdruck der eigenen Emotionen, Erkenntnisse und Einstellungen in Übereinstimmung mit dem eigenen, geschaffenen inneren psychischen Milieu (Wertehierarchie), also dem Persönlichkeitsideal, an dem der Mensch sich selbst auch misst.


Vielleicht geht es dir hier auch so wie mir, dass ich nämlich keinen wirklich großen Unterschied zwischen der vierten und fünften Stufe sehe. Das klingt alles sehr ähnlich, wobei einiges wohl perfektioniert ist. Dazu hier ein Zitat von Piechowski:


„Für viele Menschen ist Dabrowskis Konzept der Stufe V die größte Herausforderung. Ein Teil des Problems liegt in seinen Beispielen von Menschen wie Christus und Gandhi als Vorbilder der Stufe V, die das Kriterium dieser Stufe unglaublich hoch setzen. Wenn man jedoch liest, was Dabrowski dazu zu sagen hat, stellt man fest, dass die Grenze zwischen den Ebenen IV und V unzureichend definiert ist und dass der Begriff seiner Grenze noch nicht ausreichend erforscht wurde (Dabrowski, 1967, 1970, 1973). Wir sind uns langsam bewusst, dass Stufe V viele Ebenen in sich haben muss und dass das Mindestkriterium für den Weg dorthin noch genauer definiert werden muss (Piechowski, 2009). Nur weitere Untersuchungen von mehr Einzelfällen können eine genauere Definition hervorbringen.“ (Daniels/Piechowski, 2008, S. 28-29, übersetzt ER)



Zum Abschluss


Bei der genaueren Betrachtung von Dabrowskis Theorie ist es wichtig, sich immer wieder vor Augen zu führen, dass die von ihm formulierte Entwicklung nicht viel mit dem Alter eines Menschen zu tun hat. Ob du 18 bist oder 80 spielt hierbei keine Rolle. Möglicherweise beginnt diese Entwicklung bei (hoch)begabten und/oder hochsensiblen Menschen aber auch schon in der Kindheit. Bei hochbegabten Kindern sind ja mitunter schon sehr früh hohe ethische Werte festzustellen. Meinem Verständnis nach wäre das gut möglich (siehe Kohlbergs Theorie). Zumindest aber kann man an der Hochsensitivität/Hochbegabung deutlich das Entwicklungspotenzial erkennen.

Ebenso sind die einzelnen Ebenen sehr komplex. Man kann zum Teil schon auf einer höheren Ebene sein, während ein anderer Teil noch auf einer niedrigeren Ebene ist, der größte Teil aber auf der Ebene dazwischen. Der Übergang von einer Ebene zur nächsten wird immer durch innere Konflikte ausgelöst und ist mit starken Emotionen verbunden, die bei jedem Menschen eine andere Qualität und Quantität haben können.


Ich hoffe, dass ich dir mit diesem Artikel zu mehr Klarheit verhelfen und dich damit etwas weiter bringen konnte. Schreibe mir doch gern in die Kommentare, was dieser Artikel bei dir ausgelöst hat.


Im nächsten Artikel geht es dann um die Overexcitability (hohe Sensitivität).


Bis dahin alles Liebe für dich.

Eliane

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