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Underachievement – Minderleistung


Als Underachiever oder Minderleister werden in der Begabungsforschung hochbegabte Kinder bezeichnet, deren Schulnoten nicht der ihrem IQ angemessenen Leistungserwartung entsprechen. Grob gesagt heißt das also, dass hochbegabte Kinder, die schlechte Noten schreiben, Underachiever sind.


Auf die unterschiedlichen Definitionen, die es in der Begabungsforschung auch an dieser Stelle gibt, gehe ich hier nicht genauer ein, darüber habe ich in meinem Buch „Hochbegabt?“ mehr geschrieben.


Um einen Underachiever zu identifizieren, braucht man also seinen IQ (ein Testergebnis), der einen Gesamtwert von ≥130 zeigt, und seine Schulnoten.


Hier stellen sich schon gleich mehrere Fragen:

1. Was ist mit Kindern, die noch nicht getestet sind?

2. Was ist mit den Kindern, deren Gesamt-IQ unter 130 liegt?

3. Was ist mit den Kindern, die sehr gute Noten schreiben?

4. Was ist mit den Kindern, die überhaupt nicht auffällig sind?

5. Was ist mit Erwachsenen?


1. Kinder, die noch nicht getestet sind, können nicht als Underachiever identifiziert werden, weil zu einer Beurteilung der IQ-Wert fehlt. Wenn sie also in KiTa oder Schule Auffälligkeiten zeigen oder aus anderen Gründen ein Underachievement vermutet wird, ist immer zuerst die Feststellung des IQ notwendig, um erkennen zu können, ob sie unter ihrem Leistungspotenzial bleiben. Das macht man sinnigerweise bei einer Fachperson für (Hoch)Begabung, die ich Begabungsdiagnostiker nenne.


Zum Unterschied einer Testung bei einem Begabungsdiagnostiker und „normalen“ (Kinder-)Psychologen oder Kinder- und Jugendpsychiatern (KJP) gibt es in Kürze einen eigenen Artikel.


2. Kinder, deren Gesamt-IQ unter 130 liegt, können natürlich genauso Minderleistungen zeigen, wie diejenigen, deren IQ über 130 liegt.

Unser Schulsystem ist für durchschnittlich Begabte konzipiert und das ist auch gut so, damit möglichst viele einen durchschnittlichen Standard an Bildung erhalten können. Kinder, die überdurchschnittlich intelligent sind, könn(t)en natürlich mehr leisten als der Durchschnitt, weshalb für sie dieselben Maßstäbe gelten soll(t)en, wie für die sogenannten hochbegabten Kinder.


3. Auch Kinder, die sehr gute Noten schreiben, können Underachiever sein und diese Möglichkeit wird von kaum jemandem in Betracht gezogen, denn alle denken: „Gute Noten, alles gut.“ Dem ist aber leider nicht immer so!

Es ist kein Kunststück, dass sehr begabte Kinder in einem Bildungssystem, das für durchschnittliche Begabungen konzipiert wurde, gute bis sehr gute Noten schreiben. Das heißt aber nicht, dass sie ihr Potenzial in voller Höhe ausschöpfen. Sie können damit auch an „die Decke“ des gerade aktuellen Lehrstoffs stoßen und deswegen kognitiv nicht ausgelastet, unzufrieden sein und Schule grundsätzlich „doof“ finden oder in irgendeiner Weise auffällig werden. Und das kann fatale Auswirkungen haben, unter denen sie oft noch als Erwachsene leiden!


Weil dieses Thema sehr komplex ist, werde ich einen gesonderten Artikel dazu verfassen.


4. Es gibt auch Underachiever, die überhaupt nicht oder nur wenig auffällig werden. Das betrifft häufiger Mädchen als Jungen. Mädchen passen sich eher an, sie gehen Ärger häufiger aus dem Weg, als Jungen. Wobei es auch hier natürlich Ausnahmen gibt. Oft leiden sie in der Schule still vor sich hin - und können daran Schaden nehmen.


5. Und natürlich können auch Erwachsene, die bereits im Berufsleben stehen, Minderleister sein, weniger leisten, als ihr Intelligenzpotenzial erwarten ließe. Nur spielt das für die meisten keine Rolle mehr und es ist natürlich auch schlecht zu identifizieren, weil bei der Arbeit die (Schul-)Noten fehlen. Zudem sind ältere Erwachsene sehr viel seltener getestet, als jüngere Erwachsene oder Kinder. Das liegt einfach daran, dass (Hoch)Begabung noch nicht lange in der Öffentlichkeit thematisiert wird.



Wie kommt es zu Underachievement?


Menschen werden mit Bedürfnissen geboren. Neben den körperlichen Bedürfnissen nach Essen und Schlafen gibt es zwei wesentliche Bedürfnisse, die sie ein Leben lang begleiten: Das sozial-emotionale Bedürfnis nach Zugehörigkeit und das Bedürfnis nach (kognitiver) Entwicklung, die beide gleichermaßen erfüllt werden müssen, damit ein Mensch sich psychisch gesund entwickeln kann.

Weil in unserer Gesellschaft alles nach Alter gestaffelt wird, entstehen gerade bei (Hoch)Begabten mehr oder weniger starke Kollisionen zwischen den beiden Bedürfnissen nach Zugehörigkeit und Entwicklung. Denn (Hoch)Begabte entwickeln sich schneller, als ihre gleichaltrigen Peers, was zu Unterschieden in den Interessen und zu Problemen im gegenseitigen Verständnis bei Gleichaltrigen führen kann. Deswegen suchen begabte Kinder häufig den Kontakt zu älteren Kindern oder Erwachsenen.

Wird ihnen die kognitive Entwicklung (lernen) versagt oder sie daran gehindert, können sie sich nicht gesund entwickeln. Weil ihr Zugehörigkeitsbedürfnis genauso groß ist, wie ihr Entwicklungsbedürfnis, das ihnen verwehrt wird, versuchen sie, sich anzupassen, um wenigstens „dazu zu gehören“. Sie wissen nicht, dass beides für eine gesunde Entwicklung unbedingt vonnöten ist – und leider wissen es die meisten erwachsenen Bezugspersonen auch nicht.

Die Kinder fügen sich in die Vorstellungen der Erwachsenen, sprich: in die Gruppe Gleichaltriger. Sie übernehmen in dieser Rolle aber auch andere Vorstellungen der Erwachsenen und orientieren sich an den Gleichaltrigen, die ihnen aber gar keine Orientierung bieten können, weil die Begabten ihnen weit voraus sind. Das führt zu großen Verwirrungen in den Kindern, weil sie ihre Fähigkeiten im Vergleich mit Gleichaltrigen nicht spiegeln können. Sie verlieren ihre Motivation, etwas von sich selbst heraus tun/lernen zu wollen. Das, was die anderen gerade lernen, können sie schon längst und mehr dürfen sie nicht lernen und können es auch nicht in einem Rahmen, der für durchschnittlich Begabte gemacht ist. Das gilt auch für KiTan. Damit verlieren sie ihr Selbstvertrauen und verlernen die Fähigkeit der korrekten Selbsteinschätzung. Sie beginnen, ihre Erfolge und Misserfolge mit anderen Attributen zu versehen, als sie es vorher getan haben: Aus „das schaffe ich schon“ wird „das kann ich bestimmt nicht“; aus „dafür habe ich mich richtig angestrengt“ wird „das war nur Glück“; aus „da konnte ich nichts für“ wird „das war sicher meine Schuld, irgendetwas habe ich falsch gemacht“. Dass die Selbstunsicherheit, die durch diese falschen Attributionen entsteht, den Betreffenden ein Leben lang begleiten wird, ist sehr wahrscheinlich, wenn nicht rechtzeitig etwas dagegen unternommen wird.

Der Beginn kann schon in der KiTa stattfinden und setzt sich in der Schule verstärkt fort. Oder es beginnt gleich im ersten Schuljahr, weil hier ja der kognitive Aspekt eine große Bedeutung hat. Und genau das ist ein guter Nährboden für Underachievement.

Eine andere Möglichkeit der Entstehung von Minderleistung ist durch den großen Lernabstand zu Gleichaltrigen (und damit zum aktuellen Lehrstoff) und/oder durch das schnelle Lerntempo der Begabten zu erklären: Während sie in den ersten Schuljahren nicht lernen mussten, weil sie den Lernstoff schon konnten oder eben nach einmaliger Erklärung schon verstanden hatten, bekommen sie in den weiterführenden Schulen häufig Probleme, weil sie keine Lernstrategien erlernt haben. Das führt dann dazu, dass die Noten mitunter stark abfallen und die Kinder gar die Schule verlassen müssen.



Wie erkennst du Underachievement?


Underachievement entwickelt sich über einen langen Zeitraum und beginnt oft schon in der KiTa oder eben in der Grundschule. Mit unterschiedlichem Alter stehen den Kindern unterschiedliche Möglichkeiten des Ausdrucks zur Verfügung.

So wird ein Kindergartenkind möglicherweise durch Rückzug oder Aggression auffällig. Möglich ist auch, dass es vermehrt regressives Verhalten zeigt, Zuhause und/oder in der KiTa. Dieses regressive Verhalten (z. B. Sprechen wie Dreijährige, obwohl ein großer Wortschatz und eine eloquente Ausdrucksweise beherrscht werden) ist bei begabten Kindern ein Anpassungsversuch „nach unten“ und sollte immer Anlass zum genaueren Hinschauen geben. Es ist ein Alarmsignal. Möglicherweise wird das Kind aktiv eingebremst oder es bremst sich selbst aufgrund nonverbaler Erwartungshaltungen ein. Wenn dein begabtes Kind regressives Verhalten zeigt, finde heraus, wo im System der Fehler liegt. Bei deinem Kind liegt er nicht!

Auch Aggression oder Rückzug (stiller werden, sich übermäßig anpassen, auch das, was „selektiver Mutismus“ genannt wird, also die Weigerung, mit bestimmten Personen oder in bestimmten Situationen/Umfeldern zu sprechen) können Anzeichen von beginnendem Underachievement sein. Wie ein Kind äußert, dass etwas nicht stimmt, ist auch von seinem Temperament abhängig.

Ein Vorschulkind wird vielleicht von „Langeweile“ sprechen oder schon konkret benennen, welche seiner (Lern-)Bedürfnisse in der KiTa nicht gestillt werden: „ich darf nicht lesen“ oder „die wollen gar nicht hören, was ich über das Weltall schon weiß“.


Dieselben Verhaltensweisen sind auch noch im Grundschulalter möglich, hier hört man von den Kindern allerdings häufig „mir (das) ist langweilig“. Manche Kinder können auch benennen, was konkret „langweilig“ ist, in dem sie deutlich sagen: „diese Aufgaben kann ich doch schon, warum soll ich die dauernd üben?“ oder „der Lehrer hat heute wieder die Multiplikation laaaang und breit erklärt und die anderen kapieren das einfach nicht“.

Bei älteren Kindern und Jugendlichen wird es schon schwieriger, weil sie viel mehr Möglichkeiten des „Vermeidens“ oder negativ ausgedrückt, des „sich-drückens“ haben. Oftmals ist hier das Underachievement auch schon manifestiert, so dass man kaum noch an diese Kinder heran kommt.



Was kannst du gegen Underachievement tun?


Vorbeugen ist natürlich immer besser als heilen. Das gilt auch für Minderleistung. Sorge dafür, dass dein Kind kognitiv ausgelastet ist und lasse es lernen, was es lernen möchte. Die intrinsische Motivation, also das, was aus dem Kind selbst kommt, ist immer der beste Wegweiser dafür, was deinem Kind gut tut. Dein Kind „weiß“ das ganz intuitiv. Jeder Entwicklungsschritt ist wichtig und er ist bei unterschiedlichen Kindern zu unterschiedlichen Zeitpunkten fällig – da kannst du dich ganz auf dein Kind verlassen. Wenn dein Kind lesen lernen möchte, unterstütze es dabei, wenn es malen oder ein Instrument erlernen möchte, unterstütze es auch dabei. Lass‘ dich nicht beirren, wenn andere das „nicht gut“ finden oder für „überambitioniert“ halten und auch nicht, wenn andere der Meinung sind, dass das Kind das noch nicht können „muss“. Dein Kind weiß, was jetzt gerade bei ihm „dran“ ist. Selbst wenn ihm nach Auffassung so mancher Erwachsener noch „motorische Fähigkeiten“, wie zum Beispiel die Stifthaltung, fehlen sollten: Dein Kind weiß, was es sich selbst zumuten kann und wird damit aufhören, wenn es zu anstrengend ist.

Und mal ganz ehrlich: Ist es nicht schnurzegal, wie jemand einen Stift hält (wenn es ihm leicht fällt)? Schau dir mal genauer an, wie Erwachsene ihre Stifte halten. Du wirst dich so manches Mal wundern. Und auch sie sind durch die Schule gekommen, haben studiert und stehen im Arbeitsleben. Man kann alles übertreiben.

Sorge dafür, dass dein begabtes Kind nicht unter den Vorstellungen so mancher Erwachsener, die glauben, sie wüssten wann wer was können sollte, leiden muss und vertraue seinem natürlichen Entwicklungsbedürfnis.

Falls dein Kind schon in der KiTa ist, suche das Gespräch mit den Erziehern und bitte sie, mehr auf die Bedürfnisse deines Kindes einzugehen. Wenn sie sich deutlich und vehement verweigern, hoffe nicht darauf, dass das irgendwann einmal anders wird, sondern bringe dein Kind in eine förderliche Umgebung.

Wenn das möglich ist, lasse es Zuhause. Du brauchst keine Angst zu haben, dass es dann „kein Sozialverhalten“ lernt. Erstens kann dein begabtes Kind das schon und zweitens hat es allein mit der Familie schon ein „soziales Umfeld“, zusätzlich der Kinder, die es außerhalb der KiTa kennt.


In der Schule ist das freilich nicht mehr so „einfach“. Es gibt Lehrpläne, an die die Lehrer sich zu halten haben, es gibt viele andere Kinder in der Klasse, die die Dinge auch begreifen müssen und es gibt so etwas wie Gemeinschaft, die gefördert werden soll.

Zum Thema Gemeinschaft mit Gleichaltrigen habe ich weiter oben schon geschrieben. Was das Lerntempo der anderen Kinder angeht und auch die Lehrpläne, so mache dir immer bewusst, dass unser komplettes Bildungssystem für durchschnittlich begabte Menschen konzipiert ist und DEIN Kind anders ist. Es hat andere (Lern-)Bedürfnisse und es ist wichtig für seine gesunde psychische Entwicklung, dass die erfüllt werden. Suche das Gespräch mit den Lehrern und bitte sie, dein Kind adäquat zu fördern, denn sie haben viele Möglichkeiten dazu. Individuelle Förderung, die natürlich auch die Begabtenförderung einschließt, ist eine Vorgabe des Kultusministeriums und keinesfalls eine individuelle „Extrawurst“ für dein Kind! Zeigen sich die Lehrer „beratungsresistent“, ist es für die psychische Gesundheit deines Kindes dringend notwendig, dass du es in ein förderlicheres Umfeld bringst, sprich: eine andere Schule!

Wenn dein Kind schon in der weiterführenden Schule ist, sollte unbedingt herausgefunden werden, was konkret die Ursache für das Underachievement ist. Liegt es tatsächlich an fehlenden/mangelhaften Lernstrategien/-techniken, so kann hier mit einem Lerncoaching, am besten eines für Hochbegabte, eine Menge erreicht werden. Sollte es ein Resultat einer andauernden Unterforderung sein, muss hier über Forderung (anspruchsvollerer Lernstoff, ggf. Klassensprung) nachgedacht werden und das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen aktiv gestärkt werden. Wobei hier auch Ursache und Wirkung verwechselt werden können, denn ein länger andauerndes Underachievement aufgrund von fehlenden Lernstrategien raubt natürlich auf Dauer auch das Selbstvertrauen und das Selbstwertgefühl.


Immer und in allen Fällen, in denen irgendwelche Schwierigkeiten auftreten, ist der späteste Zeitpunkt für eine Begabungsdiagnostik erreicht, sofern sie noch nicht erfolgt ist! Das steht allen anderen Maßnahmen voran.


Noch einmal kurz zur Langeweile in KiTa und Schule:

Mit „langweilig“ ist natürlich nicht gemeint, was Erwachsene darunter verstehen, sondern es ist immer ein Ausdruck von Unterforderung. Dauerhafte Unterforderung verursacht Stress, genauso wie Überforderung und zeigt sich manchmal gar in derselben Symptomatik. Das schadet deinem Kind extrem und deswegen solltest du alles daran setzen, diesen Zustand abzustellen!


Manche Kinder sind zufrieden, wenn sie außerhalb der Schulzeit adäquat gefördert werden, lernen dürfen wann immer und was sie wollen und ggf. ein interessantes und vielseitiges Freizeitangebot zur Verfügung haben. Andere halten die Unterforderung in der Schule dennoch nicht aus. Bedenke: Sechs bis acht Stunden Schule ist eine sehr lange Zeit. Für Erwachsene sind sie schnell vorbei, für Kinder dauern sie ewig. Mute das deinem Kind nicht zu!

Die Erfahrungen, die dein Kind in der Schule macht, werden nicht mit Beendigung der Schulzeit „abgehakt“. Sie wirken ein Leben lang und können deinem Kind auch wenn es erwachsen geworden ist, das Leben sehr schwer machen.


Ist es nicht unsere Aufgabe und unser Wunsch als Eltern, unsere Kinder glücklich zu machen, damit aus ihnen einmal lebensbejahende, selbstständige und mutige Menschen werden?


Bis zum nächsten Artikel grüßt dich

Eliane


Ist dein begabtes Kind ein Underachiever? Oder vermutest du, dass es einer sein könnte? Hast du gute Strategien für dein Kind gefunden, die eine Umkehr bewirkt haben? Schreibe es gern hier in die Kommentare!

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