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Kazimierz Dabrowski – Sensitivität und Intensität (1)

Aktualisiert: 29. Sept. 2019


Wenn du (oder dein/e Kind/er) hochsensibel oder hochbegabt bist, solltest du dir diesen Namen merken. Die Lehren von Dabrowski haben nicht nur mir, sondern auch vielen anderen gleich ganze Kaskaden an Erkenntnissen beschert. Deshalb möchte ich dir von ihm und seiner Persönlichkeits-Entwicklungs-Theorie erzählen, „von der manche [Anm.: Fachleute] sagen, es sei die wichtigste und gründlichste im Hinblick auf hochbegabte Menschen“ (Prof. emerit. Dr. Franz Josef Mönks). Nicht nur, wenn du einen IQ von mindestens 130 hast, sondern auch und vor allem, wenn du „nur“ hochsensibel bist, werden dir damit bestimmt „einige Lichter aufgehen“.

Ganz sicher kann Dabrowskis Lehre dir wertvolle Erkenntnisse vermitteln und dich in deiner Persönlichkeitsentwicklung ein gutes Stück weiter bringen.



Sein Leben


Kazimierz Dabrowski (1902-1980) war ein polnischer Psychologe, Psychiater und Philosoph. Vor allem aber war er Arzt. Wie du an seinem Geburtsjahr erkennen kannst, hat er beide Weltkriege ganz bewusst erlebt und wie viele andere in diesen Zeiten sah er die unglaublichsten Auswüchse menschlicher Grausamkeit. Er selbst wurde an seiner Berufsausübung gehindert, kam ins Gefängnis und wurde sogar gefoltert. Weil er Juden geschützt hatte.

Aber er sah auch, dass einige Menschen sich aufopferten, die ihren Mut nie verloren und selbst gefährlichste Dinge auf sich nahmen, um anderen zu helfen und sie zu beschützen.


Wie so vielen von uns fiel ihm schon in seiner Jugend auf, wie grausam und oberflächlich Menschen sein können und wie wenig sie sich selbst und ihr Handeln reflektieren. Nur wenige haben UND leben hohe moralische Werte. Dabrowski wollte herausfinden, warum das so ist und was es braucht, diese hohen Werte zu entwickeln und auch danach zu leben. So machte er sich auf die Suche nach solchen Menschen. Zunächst fand er sie in den Biographien bekannter Persönlichkeiten und Heiligen.



Die Entstehung der „Theorie der positiven Desintegration“


In seiner Praxis erlebte er viele kreative Jugendliche und Erwachsene und führte Fallstudien an Künstlern, Schauspielern und intellektuell begabten Kindern und Jugendlichen durch. Diejenigen, die „nach etwas Höherem“ in ihrem Leben strebten, zeigten einen emotionalen Reichtum, den Dabrowski schon in den Biographien bedeutender Persönlichkeiten entdeckt hatte. Sie waren nicht mit ihrem Ist-Zustand zufrieden, sondern folgten ihrer Vision davon, wie sie sein könnten und wollten. Sie wollten sich entwickeln. Von der Person, die sie waren hin zu der Person, die sie sein wollten, ihrer Idealvorstellung eines „guten Menschen“. Dabei erlebten sie große und tiefe innere Konflikte, waren ständig im Kampf mit sich selbst. „Soll ich, soll ich nicht?“. Diese inneren Konflikte wurden immer wieder von Selbstzweifeln, Selbstkritik und Ängsten begleitet, die sie an ihrem Ziel zweifeln ließen.


In der Medizin wurden diese Zustände damals, 1950/1960, als „psychoneurotische Störung“ bezeichnet und schon damals wurden (lediglich) ihre Symptome behandelt. Dabrowski hielt das für falsch, denn er betrachtete diese Symptome als ein deutliches Zeichen eines inneren Dranges, sich, seine Persönlichkeit zu entwickeln und damit eine höhere Entwicklungsstufe zu erreichen (wenn es damals schon die positive Psychologie gegeben hätte, hätte man Dabrowski sicher dort ansiedeln können).

Er versuchte, seine Fachkollegen davon zu überzeugen, dass diese Zustände von Selbstzweifeln, Selbstkritik und Ängsten nur ein Zeichen eines inneren Konflikts und damit ein Zeichen innerer Persönlichkeitsentwicklung seien und nicht etwa Symptome einer wie auch immer gearteten psychischen Störung. Das ist ihm leider nicht gelungen, wie wir alle wissen, denn noch heute werden diese Gefühle als krank, zumindest aber als unerwünscht angesehen und es wird versucht, sie weg zu therapieren.



Der Kern der Theorie


Nach Dabrowski gibt es 5 Stufen der Persönlichkeitsentwicklung (ich erzähle später noch ausführlicher darüber).

Mit „positiver Desintegration“ meint er eine im Sinn von Persönlichkeitsentwicklung positive Nicht-Anpassung an das Umfeld, gesellschaftliche Konventionen, aber auch an die eigene vorhandene psychische Struktur. Diese Nicht-Anpassung ist der Kern der Theorie. Sie ist eine notwendige Voraussetzung für das Erreichen einer reiferen („höheren“) Entwicklungsstufe und damit einer besseren Lebensqualität.

Ganz kurz ausgedrückt könnte man sagen, es ist die Entwicklung vom reinen Egozentrismus zum Altruismus. Wobei Dabrowski betont, dass diese Entwicklung nicht mit dem biologischen Reifungsprozess in Verbindung steht und auch keinem Zeitplan folgt, obwohl sie immer in derselben Reihenfolge abläuft. Dabei ist allerdings nicht notwendiger Weise die komplette Entwicklung auf einer bestimmten Stufe (Phase) abgeschlossen. Meistens bewegen sich Menschen auf zwei oder gar drei Stufen, bis sie am Ziel angekommen sind.


Nach Dabrowski bedeutet Desintegration eine Differenzierung durch die Lockerung von Strukturen, die Zerstreuung und das Aufbrechen von psychischen Kräften. Der Mensch beginnt zu zweifeln, ob das, was ist, auch das ist, was er will/was sein sollte. Er fühlt sich nicht (mehr) wohl in seiner Haut, beginnt zu suchen, sich mit sich selbst, seinem Leben, seinem Umfeld und seinen Werten auseinander zu setzen. Es entsteht der sogenannte „innere Konflikt“. Auf der einen Seite fühlt man sich dem Alten noch zugehörig und will es nicht loslassen, weil man nicht weiß, was kommt. Bekanntes schafft Sicherheit und es ist immer schwer, die aufzugeben. Auf der anderen Seite fühlt man sich zum Neuen hingezogen, ja hingeSogen. Es fühlt sich so gut, so richtig an und schafft gleichzeitig Unsicherheit. Man glaubt, den Boden unter den Füßen zu verlieren, wenn man dem nachgibt.


Der Begriff der Desintegration bezeichnet eine breite Palette von Prozessen: von emotionaler Disharmonie bis hin zur vollständigen Fragmentierung der Persönlichkeitsstruktur. Das ist ein mitunter sehr schmerzhafter und stark von Ängsten begleiteter Prozess. „Ich beginne mich aufzulösen“, „ich weiß nicht (mehr), wer ich bin“, oder „ich weiß nicht, was ich will“, „ich bin ständig unzufrieden, dabei habe ich doch alles“ sind ganz typische Aussagen in dieser Zeit. Logisch, dass es Angst macht, wenn man das Gefühl hat, sich nicht mehr zu kennen, sich gar aufzulösen!

Nach Dabrowski sind diese Gefühle in diesem Stadium völlig normal. Sie kennzeichnen die Geburt einer höheren psychischen Struktur (schließlich braucht Neues auch Platz!), den Wechsel auf eine höhere Stufe der Persönlichkeitsentwicklung. Insofern sind derartige Zustände als Entwicklungsschübe zu verstehen. Sie eliminieren alte und schaffen neue Dynamiken/Strukturen, um in der Entwicklung voran zu kommen. Desintegration ist also ein schmerzhafter, aber notwendiger Prozess, um sich selbst weiter zu entwickeln. Und das ist letzten Endes als positiv zu bewerten. Deshalb „positive Desintegration“.


Diese Desintegration kann einstufig (nur auf einer Ebene/in einer Phase) oder mehrstufig (auf mehreren Ebenen/in mehreren Phasen) stattfinden. Sie KANN aber auch pathologische Auswüchse annehmen. Von daher ist es immer ratsam, an diesen Schwellen der Entwicklung sach- und fachkundige Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Ich muss hier nicht noch einmal betonen, dass das nicht unbedingt „normale“ Psychologen sind, sondern Fachpersonen sein sollten, die sich ganz fundiert mit Hochsensibilität/Hochbegabung auskennen, oder?

Desintegration kann teilweise oder global stattfinden, permanent oder vorübergehend und als positiv oder negativ empfunden werden.



Entwicklungspotenzial


Ob und wie weit ein Mensch seine Persönlichkeit entwickeln kann, hängt von seinem Entwicklungspotenzial (development potential) ab. Wir kommen alle mit einer gewissen „Grundausstattung“ zur Welt, die unser Potenzial darstellt. Dieses Potenzial gibt den Rahmen unserer Entwicklungsmöglichkeiten vor, die nach Dabrowski von drei Faktoren wesentlich beeinflusst werden:


1. Faktor Genetische und dauerhafte körperliche Merkmale wie zum Beispiel Intelligenz, hohes Empfindungsvermögen (Sensitivität), besondere Talente und Körperbau.


2. Faktor Hier sind die Einflüsse des sozialen Umfeldes gemeint, es geht also erstlinig um Beziehungen.


3. Faktor Dies sind die individuellen, inneren psychischen Kräfte. Dazu gehören zum Beispiel Bewusstsein, Wille, Erkennen der Wahlmöglichkeit in der eigenen Entwicklung. Dieser Faktor ermöglicht erst die Selbstbestimmung und bildet die Grundlage für Kreativität und Weiterentwicklung.


Das Entwicklungspotenzial kann auf den ersten Faktor beschränkt bleiben, was sich durch egozentrisches oder unsoziales Verhalten (oder beides) zeigt.


Es kann auch auf die ersten beiden Faktoren beschränkt bleiben, was sich in einem konventionellen Lebensstil und großer Konformität zeigt.


Umfasst das Entwicklungspotenzial alle drei Faktoren, so sehen wir autonome und authentische Persönlichkeiten.


Ein hohes Entwicklungspotenzial ist gekennzeichnet durch:


Überdurchschnittliche Intelligenz (1. Faktor) besondere Talente und Fähigkeiten (1. Faktor) hohes Empfindungsvermögen (Sensitivität, overexcitability) (1. Faktor) Selbstbestimmung (3. Faktor)


Hier wird deutlich, dass der 2. Faktor unsere (sicht- und spürbare) Entwicklung zwar auch beeinflusst, nicht aber die Höhe unseres Entwicklungspotenzials. Dafür ist der dritte Faktor wesentlich. Vielleicht eine Erklärung dafür, dass Menschen mit einer furchtbaren Kindheit dennoch Großes erreichen können… (Ich muss bei diesem Thema immer an das Buch „Sie nannten mich Es“ von Dave Pelzer denken, das ich vor etwa einem Jahrzehnt las. Eine grausame und gleichzeitig grandiose Lebensgeschichte. Absolut lesenswert, emotional aber SEHR schwere Kost!)



Entwicklungswege


Bei einem geringen Potenzial ist eine Entwicklung auf höheren Stufen nicht zu erwarten, wie du schon an den drei Faktoren erkennen kannst.


Eine „normale“ Entwicklung findet im Rahmen der statistischen Norm statt. Hier besteht das Leben weitestgehend aus biologischer Bedürfnisbefriedigung und sozialen Aufforderungen, Befehlen und Ratschlägen, die ausgeführt werden bzw. deren Ausführung erwartet wird. Es werden keine Versuche unternommen, etwas daran zu ändern. Dabrowski bezeichnet das als „Unterentwicklung der emotionalen Funktionen“.


Eine einseitige Entwicklung kennzeichnet sich durch das Ausleben eines oder mehrerer Talente und Fähigkeiten. Es entwickeln sich nur einige emotionale und intellektuelle Potenziale, die anderen bleiben ungenutzt (oder sind möglicherweise nicht vorhanden).


Bei der globalen, beschleunigten Entwicklung, der ein hohes Entwicklungspotenzial zugrunde liegt, bilden sich alle kognitiven und emotionalen Potenziale gleich intensiv (aber nicht unbedingt zur selben Zeit!) aus und werden genutzt. Der Mensch geht ganz bewusst in Richtung der eigenen Persönlichkeitsentwicklung.

Sensitivität und Intensität (Overexcitability)


Ein deutliches Kennzeichen der positiven Desintegration ist ein hohes Empfindungsvermögen, eine hohe Sensitivität (Overexcitability, OE), die sich häufig in einer hohen Emotionalität zeigt. Emotionen spielen also die Hauptrolle in Dabrowskis Theorie. Die Arten oder Bereiche, in denen sich die hohe Sensitivität beobachten lässt, bezeichnet er wie folgt:


psychomotorische Gesteigerte Erregbarkeit des neuromuskulären Systems. Zeigt sich oft in einer hohen körperlichen („hyperaktiv“), auch geistigen Energie. Aber auch in zum Beispiel schnellem Sprechen.


sensorische Erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit der 5 Sinne (hören, sehen, riechen, schmecken, berühren)

intellektuelle Intensive und schnelle Aktivität des Geistes. Alles ergründen wollen, immer auf der Suche nach Wahrheiten.

imaginative Phantasiereichtum positiv, aber auch negativ (lügen). Ausgezeichnete Fähigkeit zur Visualisierung („Bilderdenker“)


emotionale „Funktion der Erfahrung emotionaler Beziehungen“ (Dabrowski). Hochkomplexe Gefühlswelt, kann sich in Gefühlsausbrüchen zeigen, sehr differenzierte Gefühle gegenüber dem Selbst, die sie gut verbalisieren können.


Diese Sensitivitäten in den 5 Bereichen werden heute verstärkt im Bereich der Hochbegabungsforschung und –förderung kommuniziert. Sie sind zwar ein wesentlicher, bemerkenswerter und wahrscheinlich auch sehr eingängiger, aber dennoch nur ein Teil von Dabrowskis Theorie.


Ich werde in einem der nächsten Artikel detaillierter auf diese Sensitivitäten eingehen. Wenn du nicht so lange warten möchtest, kannst du ausführliche Schilderungen darüber in meinem Buch "Hochbegabt?" nachlesen.

Dabrowski bezeichnete diese Übererregbarkeiten, die hohe Sensitivität, als einen „Reiz-Reaktions-Unterschied“ zur Norm und sah ihre Ursache in einer angeborenen Empfindlichkeit des zentralen Nervensystems (Gehirn).

Bei Kindern kann man noch nicht beurteilen, auf welcher Stufe der Persönlichkeitsentwicklung sie stehen (die beginnt bewusst erst frühestens in der Pubertät). Aber man kann diese Sensitivitäten deutlich erkennen. Deshalb ist eine Auffälligkeit in EINEM oder mehreren dieser Bereiche immer ein Zeichen eines hohen Entwicklungspotenzials und sollte unbedingt Beachtung finden. Diese Kinder können nicht früh genug verständnis- und liebevolle Unterstützung erfahren, um zu werden, wer sie werden können und sein sollen!


Erwachsene haben sich auf dem Weg der Sozialisierung schon das ein oder andere abgewöhnt und/oder Strategien entwickelt, sich selbst zumindest situationsbedingt „im Zaum zu halten“. Bei ihnen kann man aber immer noch die sogenannten BIG THREE feststellen. Das sind: intellektuelle, imaginative und emotionale Sensitivität. Bereiche also, die sich gut verbergen lassen. Und viele begabte Menschen tun das. Sie verbergen sie. Unter mehr oder weniger großen Anstrengungen, die immer mit einem hohen Verbrauch an Energie verbunden sind, die in Folge nicht mehr für anderes verfügbar ist.

Und natürlich sind die Ausprägungen bei jedem Einzelnen völlig unterschiedlich, auch in der Intensität. Deshalb reicht auch eine Auffälligkeit in EINER dieser Sensitivitäten aus, um auf ein hohes Entwicklungspotenzial aufmerksam zu werden und vielleicht doch einmal genauer hinzuschauen.


Ich freue mich, wenn dich dieser Artikel ein wenig weiter gebracht hat. Und wenn du mit mir sprechen möchtest, dann schreibe mir einfach!


Im nächsten Artikel werde ich die 5 Stufen der „Theorie der positiven Desintegration“ ausführlicher schildern.


Bis dahin alles Liebe für dich.

Eliane

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