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Autorenbildelianereichardt

Underachievement bei Erwachsenen und das Hochstapler-Phänomen

In meinem letzten Artikel „Underachievement – Minderleistung“ hatte ich 5 Fragen aufgeworfen und dabei darauf hingewiesen, dass ich dieses Thema in Bezug auf Erwachsene gesondert behandeln werde. Underachievement bei Kindern bedeutet definitionsgemäß, dass sie schlechtere Schulnoten bekommen, als ihr IQ das vermuten ließe. Aber wie sieht das bei Erwachsenen aus? Gibt es Underachievement auch bei ihnen? Und wenn ja, wie äußert sich das und was kann man dagegen tun?

Mir sind Parallelen zum sogenannten „Hochstapler-Phänomen“ aufgefallen, die ich hier einmal aufgreifen möchte. Dazu zunächst eine



Einführung in das Hochstapler-Phänomen (HP)

In den 1970er Jahren fiel Pauline Rose Clance auf, dass sie selbst und einige ihrer Kommilitonen vor Prüfungen unrealistische Ängste entwickelten: Trotz bisher guter Beurteilungen und stetigen Erfolgen hatten sie Angst, die nächste Prüfung nicht zu bestehen, also ihre Erfolge nicht wiederholen bzw. fortsetzen zu können. Sie fand das hoch interessant und begann, gemeinsam mit Dr. Suzanne Imes, an diesem Thema zu forschen.

Die beiden prägten den Begriff „Impostor-Phenomenon“, zu Deutsch „Hochstapler-Phänomen“, aus dem dann in der Umgangssprache das „Hochstapler-Syndrom“ wurde (wissenschaftlich wird das mittlerweile auch „Hochstapler-Selbstkonzept“ genannt).


Was genau ist das Hochstapler-Phänomen?


Hochstapler nach Clance/Imes sind hochbegabte, sehr sensible Menschen, die


  • sich selbst nichts/nicht viel zutrauen

  • Angst vor Erfolg haben

  • den eigenen Erfolg nicht genießen/würdigen können

  • ihre zweifelsohne vorhandenen Kompetenzen herunterspielen

  • Lob nicht annehmen können

  • unter Versagensängsten, großen Selbstzweifeln und oft Schuldgefühlen leiden

  • perfektionistisch sind und überwiegend introvertiert


Sie sind fest davon überzeugt, dass ihre Erfolge nicht aus ihren eigenen Fähigkeiten entstehen, sondern auf Zufall, Beziehungen oder sonstigen äußeren Einflüssen beruhen und leben in ständiger Angst, dass jemand entdecken könnte, dass sie eigentlich gar nichts wissen oder können.

Ein Leben in ständiger Angst mindert die Lebensqualität erheblich und kann bei starker Ausprägung zu Job- und Beziehungsverlusten und sogar zu psychischen Störungen führen!


Zu Beginn der Forschungen gingen die beiden Frauen davon aus, dass das HP nur erfolgreiche Frauen beträfe. Heute weiß man, dass auch Männer, Hausfrauen (Mütter) und sogar Jugendliche darunter leiden können und dass das HP nicht nur im beruflichen, sondern auch im privaten Kontext auftreten kann. Und immer handelt es sich um sehr intelligente und sensible Menschen.


Was sind die Ursachen des Hochstapler-Phänomens?


Die Ursachen für das HP sehen Clance und Imes primär im Elternhaus und hierbei vorwiegend in gegensätzlichen Aussagen/Haltungen des Elternhauses und anderen Autoritätspersonen, z. B. Lehrern.


  • Wenn die Eltern die Erfolge des Kindes aus welchen Gründen auch immer nicht würdigen, wird das Kind ständig zu beweisen suchen, dass es das wert ist. Es wird viel lernen und immer gute Noten schreiben, in der Hoffnung, die nötige Anerkennung doch noch zu bekommen.

  • Wenn die Eltern selbst sehr erfolgreich sind, wird das Kind es ihnen gleich tun wollen und aus diesem Grund gute Noten anstreben.

  • Wenn die Eltern in einem Fachbereich erfolgreich sind, der das Kind nicht interessiert oder der ihm nicht liegt, und von ihm erwarten, dass es in ihre Fußstapfen tritt, wird es Schuldgefühle und Selbstzweifel entwickeln und wenig Mut haben, seinem eigenen Weg zu folgen

  • Wenn die Eltern selbst beruflich nicht erfolgreich sind, wird das erfolgreiche Kind Schuldgefühle und Selbstzweifel entwickeln, weil es doch nicht erfolgreicher sein darf/kann, als die Eltern.

  • Außer dem eigenen inneren Antrieb, der, wenn er den Interessen/Haltungen/Meinungen der Eltern widerspricht, zu großen Ambivalenzen in dem Kind führen kann, sind es auch die Meinungen anderer Autoritätspersonen:

  • Wenn Eltern es nicht für nötig halten, dass das Kind „Karriere“ macht, Lehrer zum Beispiel aber das Kind ermutigen und in seinen Fähigkeiten unterstützen.

  • Oder umgekehrt, wenn Eltern ihr Kind nach Kräften unterstützen und Lehrer der Meinung sind, das Kind sei nicht intelligent genug, zu faul, zu langsam…

Was hat das alles mit Underachievement zu tun?


Dazu ein kleiner Exkurs in die Lernmotivation:

Natürlicherweise sind Kinder tätigkeitsmotiviert. Das heißt, dass sie nach für sie attraktiven Lerninhalten suchen (im Kleinkindalter z. B. Türme aus Bauklötzen oder mit Duplo/Lego bauen), die sie sich eigenständig erschließen und die damit verbundenen Problemstellungen eigenständig lösen können. Den Antrieb dafür beziehen sie aus der intrinsischen (von innen kommenden) Motivation, der das angeborene Entwicklungsbedürfnis zugrunde liegt. Dieses Entwicklungsbedürfnis wird in der Lernmotivationsforschung auch Wissbegier oder Erkenntnisstreben genannt. Dabei ziehen sie ihre Kenntnisse direkt aus dem Lernprozess, der inklusive seines Ergebnisses mit positiven Emotionen besetzt ist, was zu weiterem Lernen antreibt. Das Lernen macht Spaß, weil es befriedigend ist („Flow“). Damit sind sie unabhängig von äußeren Bewertungen.

Im Kindergarten, spätestens aber in der Schule ändert sich das bei vielen Kindern und sie werden leistungsmotiviert. Das heißt, dass sie Lerninhalte nicht mehr der Inhalte und des Lerneffekts (Entwicklungsbedürfnis) wegen aufnehmen, sondern für eine äußere „Belohnung“, zum Beispiel gute Noten. Das nennt man extrinsische Motivation, denn der Erfolg kommt erst nach dem Lernprozess, er liegt außerhalb des eigentlichen Tuns. Das Lernen macht Spaß, weil mit dem Erfolg eine Belohnung verbunden ist. Diese Kinder wollen anderen etwas beweisen. Damit sind sie von der äußeren Bewertung abhängig.


Studien zeigen, dass die intrinsische Motivation der maßgebliche Antrieb bei begabten Kindern ist und die extrinsische Motivation „nur“ ein Korrektiv. Dabei vermutet man, dass die Leistungsmotivation (extrinsisch) erziehungsbedingt ist.


Auch dies ist ganz klar eine stark vereinfachte Darstellung eines komplexen Sachverhalts und natürlich gibt es auch hier keine „Reintypen“, sondern intrinsische und extrinsische Motivation ist bei allen Menschen in unterschiedlichen Ausprägungen vorhanden. Frage ist nur, welche ist dominant?

Beim Hochstapler-Phänomen ist die extrinsische Motivation dominant. Das ist nicht gut, denn bei (hoch)Begabten Menschen ist die intrinsische Motivation das (psychische) Lebenselixier. Wenn du dir die möglichen Ursachen für das HP noch einmal ansiehst, wirst du feststellen, dass diese Menschen immer noch in dem Verhalten stecken, irgendwem (meistens den Eltern) etwas beweisen zu wollen - und sich damit selbst blockieren.


Auffällig ist, dass sowohl Underachiever als auch Menschen, die unter dem Hochstapler-Phänomen leiden, ihre eigenen Erfolge und Misserfolge mit denselben Kausalattributen (woran liegt es, was ist der Grund?) belegen:

Beide Gruppen führen ihre eigenen Erfolge auf Zufall (Glück, Beziehungen, zu leichte Aufgabenstellung) zurück und verbinden ihre eigenen Misserfolge mit einem Mangel an Begabung und/oder Arbeitseinsatz. Diese Attributierung führt zwangsläufig zu einem geringen Selbstwertgefühl und wenig Selbstvertrauen.


Darüber hinaus attribuieren beide Gruppen die Erfolge/Misserfolge anderer genau umgekehrt, nämlich auf eine natürliche, gesunde Weise: Wenn andere Menschen Erfolg haben, liegt das sicher an ihrer hohen Intelligenz oder an ihrer ausgeprägten Spezialbegabung, während ihre Misserfolge auf Pech, ungünstigen Umständen oder dergleichen basieren.

Auf diese Weise ergibt sich ein mehr als ungünstiger Vergleich, denn sie sehen sich selbst kleiner und andere größer, als angemessen. Dabei können Menschen mit HP ja nur schlecht abschneiden, was sie wiederum in ihrer Sichtweise bestätigt.


Es scheint also durchaus berechtigt, davon auszugehen, dass aus minderleistenden Kindern vom Hochstapler-Phänomen betroffene Erwachsene werden, wenn sie nicht aus dem Underachievement herausfinden, was auch heute noch leider eher der Regelfall als die Ausnahme ist.

Du erinnerst dich: Auch Kinder, die nicht getestet sind, können Underachiever sein, ebenso wie Kinder, die immer gute Noten schreiben (weil die Anforderungen in der Schule weit unter ihrem Fähigkeitspotenzial bereits ausgereizt sind), solche, deren Gesamt-IQ mit unter 130 getestet wurde und auch die, die unauffällig im Mittelfeld sind (häufig Mädchen). Das sind eine ganze Menge Schüler, aus denen natürlich Erwachsene werden. Und leider auch solche Erwachsene, die unter einem HP leiden und damit eine Menge Lebensqualität einbüßen (müssen).

Wenig (gesellschaftlich anerkannt!) erfolgreiche Menschen, finden in den Untersuchungen von Clance/Imes und anderen keine Berücksichtigung. Dabei gibt es massenweise unerkannte Hochbegabte, die in der Schule nicht besonders gut oder gar Schulverweigerer waren oder die, die unauffällig im Mittelfeld schwammen, was nie mit Hochbegabung in Verbindung gebracht wurde, weder von ihnen selbst (wie soll ein Kind auch von allein darauf kommen?), noch von anderen. Manche von ihnen haben den zweiten Bildungsweg und/oder eine Menge Fortbildungen besucht, andere haben eine ihren Fähigkeiten absolut nicht gerecht werdende Ausbildung gemacht und manche haben gar keine Ausbildung. Bei ihnen zeigt sich das Hochstapler-Phänomen erstlinig darin, dass sie gar nicht erst versuchen, erfolgreich zu werden („Angst vor Erfolg“), weil sie es sich von vornherein nicht zutrauen.

Was kannst du als Erwachsener tun, wenn du unter dem Hochstapler-Phänomen leidest?


Wie bei Kindern im Underachievement gibt es auch bei Erwachsenen natürlich Möglichkeiten, das HP zu überwinden. Wenngleich das schwieriger ist, je länger dieser Zustand schon anhält, ist es möglich, zumindest recht gut damit zu leben. Dazu solltest du


  • dir klar machen wo genau bei dir die Ursachen dafür liegen. Welche Glaubenssätze sind dir von wem vermittelt worden? Prüfe sie genau auf ihren Wahrheitsgehalt und auf ihre Plausibilität und streiche alles, dem du nicht zustimmst.

  • dir bewusst werden, dass das nicht dein Verschulden ist und auch nicht das anderer Menschen. Selbst wenn deine Eltern dir das „eingepflanzt“ haben, so haben sie sicher in bester Absicht gehandelt. Der Begriff „Schuld“ ist hier nicht angebracht. Dasselbe gilt natürlich auch für Erzieher/Lehrer.

  • dir immer wieder vor Augen führen, dass Erfolg für dich als (hoch)Begabte Persönlichkeit nicht gleichbedeutend ist mit gesellschaftlich anerkanntem, monetärem Erfolg. Erfolg ist für dich die Befriedigung, die das Lernen an sich dir verschafft! Daraus KANN auch gesellschaftlich anerkannter Erfolg werden, das wird für dich aber nicht mehr notwendig sein, wenn deine intrinsische Motivation wieder dominant wird. Denn dann brauchst du keine Bestätigung mehr von außen (s. o.). Wenn du erwartest, dass ein Leben ohne HP für dich gesellschaftlichen, monetären Erfolg bedeuten soll, folgst du weiterhin dem Prinzip der Anerkennung von außen, bist also durch extrinsische Motivation geprägt. Dann werden deine Bemühungen möglicherweise wenig Erfolge zeigen.

  • den Fokus auf das Stärken deiner Stärken auslegen und niemals (!) versuchen, deine „Schwächen“ auszumerzen. Das kostet nur unnötig Kraft und demotiviert und das kannst du jetzt gar nicht gebrauchen. Wenn du jetzt noch nicht so genau weist, wo deine Stärken konkret liegen, wirst du es bald herausfinden.

  • dich freuen, wenn du mit deiner wiedergewonnenen intrinsischen Motivation auch gesellschaftlich anerkannten Erfolg hast, aber nicht davon ausgehen oder es gar anstreben. Denn dann schränkst du sie ein. Intrinsische Motivation verträgt keinen Zwang, das hast du schon während deiner Schulzeit erfahren. Sie ist absolut freiheitsliebend. Gewähre ihr die Freiheit, die sie zum Leben/Erwachen braucht!

  • dir immer wieder bewusst machen, dass es keine Patentlösung und keine Garantie gibt. Hier gilt wie immer: Wenn du deiner Leidenschaft folgst und ein gutes Gefühl dabei hast, machst du es richtig.

Und jetzt:

  • Überlege dir, wo deine Haupt-Interessen liegen. Wofür hast du dich in deiner Kindheit brennend interessiert und bist womöglich eingebremst worden? Docke dort wieder an.

  • Wenn du heute mehrere gleichwertige Interessen hast, nimm dir für den Anfang ein beliebiges heraus. Wenn sich irgendwann herausstellt, dass es das nicht war, nimm dir ein anderes oder bearbeite mehrere parallel. Du hast jede Berechtigung dazu!

  • Wenn du so weit bist, beginne zu lernen. Lerne alles, was du zu dem Thema wissen möchtest. So lange du willst, so viel du willst. Die Reihenfolge kannst du dir aussuchen oder beliebig geschehen lassen. Heute bist du erwachsen und kannst lernen was immer du willst, wie immer du willst, wann immer du willst, wie viel immer du willst! Es gibt keine Vorgaben und keine Einschränkungen. Die Zeiten sind vorbei! Überfordere dich, unterfordere dich, verzettele dich, springe in den Themen hin und her und finde so DEINEN Weg. Genieße das befriedigende Gefühl, das sich allein durch das Lernen und den damit verbundenen Erkenntnisgewinn einstellt.

  • Suche Menschen mit denselben Interessen, damit du dich darüber austauschen kannst. Gemeinsam ist vieles leichter. Wenn es in deiner realen Umgebung keine dafür geeignete Plattform gibt, erschaffe eine! Erschaffe eine monatliche/wöchentliche (wie häufig immer du willst) Debattier- oder Diskussionsrunde bei dir oder in einem Lokal oder in anderen öffentlichen Räumlichkeiten. Gebe das in deiner regionalen Zeitung bekannt. Vielleicht kannst du sogar einen redaktionellen Artikel erwirken. Aber auch Fließtext-Annoncen eignen sich gut dafür und sie kosten nicht viel. Ersatzweise kannst du auch in social media nach Menschen mit gleichen Interessen suchen und wenn es auch dort keine entsprechende Gruppe gibt, eröffne eine! Möglichkeiten gib es heute in Zeiten des Internet gottlob mehr als genug. - Wer weiß, zu welchen neuen Ufern dich deine Aktivitäten führen…?

Du meinst, das geht nicht? Dir fallen tausend Gründe ein, warum das nicht geht? Dann prüfe sehr genau, wo der Hochstapler dir jetzt wieder Steine in den Weg legen will. Natürlich geht das!


Ich bin sicher, du wirst es schaffen, deinem Hochstapler die Kraft zu nehmen, ihn mundtot zu machen und dir damit ein gutes Stück Lebensqualität zurück erobern.


Solltest du es trotz aller Versuche nicht schaffen, dein Hochstapler-Phänomen zu überwinden, so scheue dich nicht, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und suche einen Coach/Berater für Hochsensibilität/Hochbegabung auf, der sich auch mit dem HP auskennt. Das sollte deine Lebensqualität, solltest DU dir wert sein!


Ich wünsche dir viel Erfolg und wie immer freue ich mich über Kommentare unter diesem Artikel.


Bis zum nächsten Mal alles Liebe für dich,

Eliane

5.144 Ansichten2 Kommentare

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2 comentários


Antonia Wunderlich
Antonia Wunderlich
25 de out. de 2019

Vielen Dank für diesen aufschlussreichen Text! Wenn man - wie ich - eigentlich immer erfolgreich war und trotzdem diese Selbstzweifel und Ängste einem den Alltag vermiesen (bis hin zum Burnout), dann scheint das eine seltsame Spezialsituation zu sein. Dein Text hat es mir aufgedröselt, touché zu 100%. Bin erschüttert, danke!

Curtir

reichardt.kathrin
10 de mai. de 2019

Hallo! Ein äußerst interessanter Artikel zum Thema. Vielen Dank dafür und herzliche Grüße, Kathrin Reichardt

Curtir
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