Alles ist "Bilder"
Ich habe für einen Synästhesieforscher während eines Telefonats einmal meine Synästhesie aufgezeichnet. Freilich bin ich nicht wirklich eine gute Zeichnerin und in meinem Kopf sehen die Bilder doch noch einmal etwas anders aus. Aber es ist auch schwer greifbar und meine Hände wollen meine mentalen Vorstellungen einfach nicht so wie ich sie sehe auf´s Papier bringen. Schon gar nicht unter Zeitdruck. Aber ich denke, ich kann damit einen Eindruck vermitteln, deshalb stelle ich hier einmal meine "Kunstwerke" zur Schau.
Ich bin Sequenz-Raum-Synästhet (auch: Time-Space-Synästhesie) und sehe keine Farben. Zumindest nicht bewusst...
Diese Bilder sehe ich vor mir, wenn ich an Zahlenreihen, das Alphabet, die Woche oder das Jahr denke. Ich habe solche Bilder auch von einem Monat (der aber auch in meinem Jahr integriert ist) und von Zeitepochen (das habe ich noch nicht aufgezeichnet).
Anhand des Kalenders will ich einmal versuchen, mein Empfinden zu beschreiben:
Ich kann ihn so betrachten, wie ich ihn aufgezeichnet habe. Dann habe ich das komplette Jahr im Blick. Natürlich befinden sich auch Bilder darin. Vorstellungen von der Zukunft, Erinnerungen an Vergangenes. Alles in Bildern. Ich kann mich auch auf diesen Kalender begeben und mich dort bewegen. Dann sehe ich mich quasi "von oben" dort stehen, wie in einem Film, in dem ich selbst mitspiele. Ich kann mich auf dem Kalender drehen und in die Vergangenheit oder in die Zukunft sehen. Natürlich bin ich kein Hellseher. Aber ich kann z. B. zukünftige Termine sehen, einfach ablesen. Geburtstage und dergleichen. Und ich habe dazu dann auch Bilder im Kopf. Szenen, wie es ablaufen könnte. Auch in die andere Richtung, die Vergangenheit, sehe ich Bilder. Szenen von dem, was gewesen ist. Ich kann diese Dinge auch heranzoomen. Beispiel: Heute ist der 17. Oktober 2013. Mein letzter Geburtstag liegt in der Vergangenheit. Ich kann diesen Tag heranzoomen, so dass ich ihn quasi noch einmal durchlebe. Von morgens bis abends. Wie einen Film. Dann "sehe" ich nur diesen einen Tag und fühle auch, was ich an diesem Tag zu dieser Zeit gefühlt habe, aber eingebettet in den Monat und in das laufende Jahr. Das gleiche geht auch in die Zukunft. Mit Bildern aus meiner Vorstellung natürlich. Wie es sein könnte.
So kann ich "davorstehend" mir einen Tag, eine Woche, einen Monat heraussuchen und mich anhand von Bildern ganz genau erinnern, mich hineinversetzen - oder mir die Zukunft vor Augen rufen. Deshalb vergesse ich auch kaum Termine. Weil ich sie immer vor mir sehe. Sie haben einen festen Platz in meinem mentalen Kalender.
Und das funktioniert nicht nur mit meinem Kalender, sondern mit allem, wo meine Synästhesie "wirkt". Heute kann ich diese Synästhesie ganz bewusst einsetzen und nutzen. Ich kann Zusammenhänge "sehen". Anhand eines solchen Schemas im Kopf. Ich kann abstrakte Dinge darstellen. Weil sich in meinem Kopf immer ein Schema, ein Bild formt. Wenn dies nicht automatisch - oder nicht schnell genug - geht, kann ich das auch bewusst forcieren. Und auf diese Art besteht meine komplette Welt - auch Abstraktes - aus Bildern. Ich habe ausschließlich Filme im Kopf!
Bei dem Bild meiner Zeitepochen gibt es eine Besonderheit: Auch dort kann ich mich bewegen, aber in die Vergangenheit nur bis zum Tag meiner Geburt. Alles, was davor war, kann ich zwar sehen, begrenzt auf meine geschichtlichen Kenntnisse, doch ich kann nicht dort hin gehen. Aber ich kann mich erstaunlich einfühlen, ganz so, als wenn ich in der entsprechenden Zeit gelebt hätte. Nur sehe ich mich nicht dort. Ich kann auch nicht in die Zukunft gehen, sondern nur dort hin sehen. Mental natürlich. Und der Blick ist auch eher verschwommen. Wie schon gesagt, ich bin kein Hellseher und ich weiß nicht, was in der Zukunft passiert. Gedanken an die Zukunft entspringen nur verschiedenen Möglichkeiten, die es geben könnte und die ich mir dann bildlich vorstelle.
Bis ich 52 Jahre alt war, wusste ich nichts davon und dachte, das sei bei allen Menschen so. Deshalb hatte ich auch wenig Verständnis, wenn jemand Termine vergaß. Oder sich nicht an Situationen erinnern konnte.
Ich bin in meinem Leben oft umgezogen. Wenn ich eine potenzielle neue Wohnung angeschaut habe, konnte ich danach gleich den Grundriss aufzeichnen. Nicht unbedingt maßstabsgetreu, aber die Proportionen stimmten. Ich wusste immer genau, wie die Zimmer angeordnet waren, wie groß sie waren, in welche Himmelsrichtung die Fenster und der Eingang lagen. In den meisten Fällen sogar, wo die Wasseranschlüsse und Steckdosen waren. Meine Umgebung staunte oft ob meines Erinnerungsvermögens. Und ich staunte, dass andere das offenbar nicht sehen, nicht so erinnern konnten.
Heute kann ich mit diesen kleinen "Fehlern" meiner Mitmenschen viel gelassener umgehen. Weil ich weiß, dass nur wenige die Welt so sehen wie ich.
Ich hoffe, dass meine Erklärung nicht gar zu verwirrend für meine Leser ist und ich damit einen kleinen Einblick in meine Welt der Synästhesie geben kann.
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