
Hochbegabung gleich IQ ≥ 130?
Nach der allgemeingültigen Definition ist es in der Tat so, dass sich jemand nur dann als hochbegabt bezeichnen darf, wenn er einen IQ von mindestens 130 nachweisen kann. Dieser Nachweis muss durch einen standardisierten IQ-Test erbracht werden.
Doch durchaus nicht allerorts wird (Hoch)Begabung so ausschließlich gesehen, wie sie in der Öffentlichkeit verstanden wird: dass nämlich die Definition mit IQ=130 erschöpft ist. Denn der gemessene IQ ist nur ein Bruchteil dessen, was die sogenannte HB ausmacht.
Die heute gängige Form der Berechnung mit dem Abweichungs-IQ ist auf David Wechsler zurückzuführen Er schlug in den 1930er Jahren die Anwendung der Skala mit einem Mittelwert von 100 und einer Standardabweichung von 15 vor.
Der Wert, ab dem ein hoher IQ als „Hochbegabung“ bezeichnet wird, kam dadurch zustande, dass zwei Standardabweichungen über dem Mittelwert (100+15+15=130) als „hinreichend überdurchschnittlich gelten“ konnten, war also wenn man so will, reine Willkür und hat(te) rein gar nichts mit irgendwelchen diesbezüglichen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu tun.
Daran hat sich seither nichts geändert. Ein weiterer, nicht unwesentlicher Punkt ist, dass der Anteil von HB an der Gesamtbevölkerung mit Hilfe der Gauss´schen Kurve festgelegt wird, die besagt, dass lediglich etwas über 2% einen IQ von >130 aufweisen. Dem entsprechend wird auch heute noch davon ausgegangen, dass es sich bei dem Phänomen HB um eben diesen recht geringen Anteil von Menschen handelt. Rein mathematisch ist dies natürlich völlig korrekt.
Nun wird mit IQ-Tests aber lediglich der intellektuelle IQ gemessen. Allein dies ist schon recht einseitig. Zwar werden künstlerische, musikalische oder mathematische außergewöhnliche Fähigkeiten gern mit „Hochbegabung“ betitelt, dennoch sind diese Menschen im Sinne der gültigen Definition nicht hochbegabt, wenn sie nicht einen entsprechenden intellektuellen IQ aufweisen können.
War Mozart hochbegabt?
Jeder wird wohl ganz klar mit „Ja“ antworten. Aber er war nicht getestet, denn damals gab es noch keine IQ-Tests. Und selbst wenn - war er denn in seinem (mir sehr sympathischen!) wirren Musikerkopf auch intellektuell hochbegabt? Bist du sicher, dass er in einem der heute üblichen IQ-Tests (herunter gebrochen auf die damalige Zeit!) einen IQ von 130 hätte vorweisen können? Ich bin da ganz und gar nicht sicher! Dennoch gilt er als hochbegabt. Und ich verrate dir etwas: er war es auch!
Ahnst du, worauf ich hinaus möchte?
Richtig: die Intelligenzmessung, wie wir sie heute durchführen, kann allenfalls ein Indiz oder letztlich die Bestätigung liefern für eine vorhandene Hochbegabung.
Sie ist das einzige Werkzeug, das uns bislang zur Verfügung steht, um eine bestimmte Andersartigkeit zu „beweisen“. Aber sie ist definitiv nicht der Weisheit letzter Schluss.
Die Persönlichkeit der sogenannten Hochbegabten spielt bei dieser Form der Definition eine untergeordnete, in der Öffentlichkeit überhaupt keine Rolle.
Genau das ist es aber, was einen (Hoch)Begabten ausmacht! Aus der Reihe der vielen Forscher zu diesem Thema fällt einer besonders auf: Kazimierz Dabrowski.
Er hat sich intensiv mit dem Thema Hochbegabung beschäftigt und verschiedene Charakteristika bei Hochbegabten Menschen beobachtet. Er bezeichnete sie als „overexcitability“, was mit einem „Übermaß an Gefühlsäußerungen“ übersetzt wurde. Dr. Franz J. Mönks weist jedoch darauf hin, dass hier eine fehlerhafte Übersetzung vorliegt. Das ursprüngliche polnische Wort meint: hohes Empfindungsvermögen, eine auffallende Sensitivität.
Ich betone das deshalb an dieser Stelle so deutlich, weil Herr Dabrowski nach meiner Recherche zu seiner Zeit der einzige war, der diese Menschen als Ganzes sah, und nicht auf eine oder einige wenige Eigenschaften reduzierte. Insgesamt gleicht seine Beschreibung der Hochbegabten einer Beschreibung von HSM, wobei dieser Begriff zu dem damaligen Zeitpunkt überhaupt noch nicht bekannt war, bzw. keine Berücksichtigung fand.
Viele der heutigen HB-Forscher beziehen diese Untersuchungen erfreulicherweise in ihr Diagnoseverfahren mit ein, ohne jedoch explizit auf Dabrowski Bezug zu nehmen.
In der Betreuung und Förderung hochbegabter Kinder und Jugendlicher hat man bereits festgestellt, dass diese „andere Form des Empfindens und Denkens“ und mitunter ein daraus resultierender Leidensdruck bereits bei einem IQ von 115 festzustellen ist. Möglicherweise ist Herr Wechsler vor 80 Jahren ein wenig über das Ziel hinaus geschossen…?
Anmerkung: Menschen mit einem IQ ab 115 werden als besonders begabt bezeichnet, ab 130 als hochbegabt und ab 145 als höchstbegabt. In der Wirtschaft bezeichnet man Menschen mit einem IQ ab 120 als High Potentials.
Diese Erkenntnisse und auch die Erfahrungen aus meiner Praxis brachten mich zu dem Gedanken, dass eben nicht (nur) der IQ, sondern die andere, die komplexe Denkweise der wirkliche Unterschied zwischen Hochbegabten und Normalbegabten ist. Und diese Denkweise resultiert aus der Sensitivität, der vermehrten Reizaufnahme und
-verarbeitung, womit wir bei den HSM sind.
Elaine Aron schätzt den Anteil der HSM an der Bevölkerung auf etwa 15 - 20%. Den oberen Wert sehe ich definitiv als zu hoch an, und das erklärt sich folgendermaßen: Aron betrieb ihre Forschungen fast ausschließlich im universitären Umfeld. An Universitäten ist naturgemäß ein signifikant höherer Anteil an HSM zu finden als in der übrigen Bevölkerung. Eines der Merkmale von HSM ist ja die höhere Intelligenz.
Ich sehe diesen Anteil ganz deutlich auf der IQ-Kurve bei etwa 15 - 16% (siehe Abbildung). Das sind nämlich die Menschen ab einer Standardabweichung (etwa IQ=115).

